Geschichte Number 1:
Stimmen der Freiheit
Schon wieder ein neuer Morgen... der Anfang eines neuen, langweiligen Tages.
Mit leerem Blick, in dem gleichzeitig grimmige Entschlossenheit lag, starrte ich nach Osten, als wollte ich die Sonne, die hinter den Gipfeln der Berge ihre ersten Strahlen auf die verschlafene Welt warf, daran hindern, aufzugehen. Doch wie immer half es nichts.
Ich konnte kaum mehr die Augen offen halten. Gedankenverloren strich ich Ralouk durch das Fell, während ich überlegte, wann ich heute Nacht meinen Rucksack gepackt und verschwunden war. Der kleine Hund leckte mir über die Hand und wedelte fröhlich mit der Rute. Er hatte ja auch allen Grund, sich zu freuen. So früh kam ich selten, meistens musste er bis Mittag warten. Aber auch in stockdunkler Nacht hatte ich ihn gleich gefunden - oder besser gesagt, er mich.
Es musste wohl so gegen vier Uhr gewesen sein, die ersten Vögel hatten schon ihr Morgenkonzert angestimmt. Ein Schauer durchlief mich und ich kuschelte mich in die dünne Decke, das einzige neben Ralouks nasser Hundezunge, das mir ein wenig Wärme und Trost spendete. Trost. Was für ein tolles Wort.
Seufzend schüttelte ich leicht den Kopf. Wann man wohl nach mir suchen würde? Vielleicht taten sie das auch gar nicht, vielleicht hatten sie inzwischen gelernt, dass man mich nicht einfach so einfangen und einsperren konnte. In dem stickigen, verdammten Schulgebäude. Geistesabwesend kramte ich in meinem Rucksack und förderte schließlich einen Apfel und ein Wurstbrot zutage. Große, braune Hundeaugen sahen mich an und ich musste lächeln.
Großzügig teilte ich das Brot und hielt Ralouk die eine Hälfte hin. Die Wurst schnappte er sich, die halbe Brotscheibe ließ er allerdings unberührt. Ich seufzte, musste jedoch grinsen. Den Apfel verstaute ich wieder im Rucksack, lustlos kaute ich an meinem Brot herum und ließ den müden Blick über die immer heller werdende Landschaft gleiten.
Eigentlich war es wunderschön hier. Ich saß inmitten von wild wuchernden Blumen. Die Blüten der Margeriten und Butterblumen schienen im ersten Tageslicht geradezu zu leuchten. Weiter im Westen sah ich den Waldrand, über das Ganze spannte sich ein blauer Himmel, über den weiße Wolken wie aus Zuckerwatte zogen.
Ralouk schnüffelte am Rucksack herum, ich stieß seine gierige Hundeschnauze weg. „Willst du einen Apfel?“, fragte ich sarkastisch. Jetzt redete ich schon mit Hunden. Und das auch noch mit Sarkasmus. Als hätte er mich verstanden, legte Ralouk den Kopf leicht schief und sah mich halb bittend, halb fordernd an.
„Es gibt nichts mehr.“, seufzte ich und steckte mir wie zur Unterstreichung meiner Worte den letzten Rest Wurstbrot in den Mund. Enttäuscht gab der kleine Hund ein missmutiges Bellen von sich und wandte sich demonstrativ von mir ab. Um meine Mundwinkel zuckte es, doch als mein Blick wieder nach Osten glitt, erstarb mein Lächeln wieder. Der Unterricht hatte bestimmt schon begonnen. Und wenn schon... es war nicht das erste Mal. Langsam wurde die Luft ein wenig wärmer, in ein paar Stunden würde es wieder unerträglich heiß sein, obwohl der Sommer noch nicht Einzug gehalten hatte. Der sanfte Spätfrühlingswind strich mir über die Arme. In der Luft lag das stetige Summen der Bienen und anderen Insekten und das Gezwitscher der Vögel.
Die ganze Nacht war ich auf den Beinen gewesen. Bis etwa vier Uhr hatte ich es noch in meinem Zimmer ausgehalten, dann war ich einfach losgerannt, mit nichts als einem Rucksack, in den ich in aller Eile die Decke und das Essen gestopft hatte. Auch wenn ich mich im dunklen Wald kaum zurechtgefunden hatte, war ich schon bald auf Ralouk getroffen und war ihm dann gefolgt. Er hatte mich hierher geführt. Meine Eltern würden mir nie einen Hund erlauben, sie drehten schon durch, wenn ich die Nachbarskatze streichelte. So hielt ich mich die meiste Zeit im Wald auf, zusammen mit Ralouk. Das war unser kleiner Rückzugsort, hier hatte ich ihn damals gefunden. Viele andere Straßenhunde misstrauten den Menschen, aber Ralouk hatte sich Schutz suchend an mich gedrängt und gewinselt. Seitdem brachte ich ihm öfters etwas zu Fressen mit, auch wenn er in der Zwischenzeit gut für sich selbst sorgen konnte. Manchmal sah ich ihn mit ein paar anderen Hunden umherstreifen und in den Mülltonnen stöbern.
Eine Weile ließ ich einfach den Blick schweifen, über die langsam richtig erwachende Welt. Das Leben um mich herum pulsierte und ganz allmählich ließ ich mich davon anstecken. Das saftige Grün des Grases und die Blumen, die dazwischen wie bunte Farbtupfer die Bienen anlockten, ließ wieder ein Lächeln über mein Gesicht huschen und ich atmete tief durch. Ausgelassen tobte Ralouk durch die Wiese, ich beobachtete ihn mit einem leisen Grinsen.
Schließlich erhob ich mich und streckte die Glieder. Decke und Rucksack ließ ich einfach liegen. Es war ein schöner Tag, zur Abwechslung einmal nicht so heiß. Die Sonne war von zarten, hauchdünnen Wolken verdeckt und ihr sonst so grelles Licht gelangte nur gedämpft auf die Welt.
Wie von alleine setzte ich mich in Bewegung, verfiel in einen leichten Laufschritt und steuerte auf den Wald zu, der mir mit dunklem Grün Schatten und Kühle versprach. Gerade, als ich den Waldrand erreichte, zeigte sich die Sonne wieder und brannte mir auf den Kopf. Schnell tauchte ich in die schattige, kühle Welt aus hohen Bäumen ein. Ich kannte diesen Teil des Waldes gut und ich brauchte nur kurz zu lauschen, um das Plätschern des kleinen Baches ganz in der Nähe auszumachen.
Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, stieß auch Ralouk wieder zu mir, der sich irgendwo anders herumgetrieben hatte. Er stürmte durch den schmalen Waldbach und schüttelte sich direkt neben mir, sodass die Tropfen nach allen Richtungen flogen. Lachend spritzte ich zurück, bis wir beide platschnass waren.
Erschöpft ließ ich mich auf den Waldboden sinken und rollte mich zusammen. Jetzt ging mir die durchwachte Nacht doch ein wenig ab. Müde schloss ich die Augen. Nur ein bisschen ausruhen, nur ein paar Minuten…
Als ich erwachte, war es für ein paar Momente stockdunkel um mich herum. Mein Herz raste, ich hatte irgendetwas geträumt, an das ich mich nicht mehr richtig erinnern konnte. Nach einer Weile gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis. Der dünne Sichelmond schien durch ein Loch im Blätterdach über mir, zu meinen Füßen plätscherte der Bach dahin. Der Mondschein spiegelte sich in dem kleinen Wellen, die über die dunklen Steine hüpften. Etwas neben mir schnaufte, geistesabwesend streichelte ich Ralouk. Der Hund schien aus irgendeinem Grund aufgeregt. Ich machte mir indes mehr Sorgen über den Krach, den es zu Hause geben würde, weil ich so lange weg gewesen war.
In diesem Moment hörte ich etwas und sah auf. Nur ein paar Meter von mir entfernt leuchtete etwas in der Nacht. Verwirrt blinzelte etwas, im selben Wimpernschlag erlosch der Schein schon wieder, wurde zumindest etwas schwächer. Eine weiße Wölfin stand zwischen zwei Bäumen und sah mich an.
Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Auch Ralouk hechelte nur leise. Ehrfürchtig blickte ich zurück, blickte der Wölfin in die dunkel bernsteinfarbenen Augen. So nahe kam sonst kein Wolf einem Menschen. Woher wusste ich überhaupt, dass es kein Rüde war? Ich wusste es einfach. Fühlte es.
Die schneeweiße Wölfin hob den Kopf, streckte die Schnauze zum Himmel. Ein leiser, langgezogener Laut kam aus ihrer Kehle und schwoll zu einem kraftvollen Heulen an. Weitere Stimmen antworteten ihr. Neben mir fiel auch Ralouk in das Geheul mit ein. Und ohne, dass ich es richtig wahrnahm, schloss ich die Augen und heulte mit den Wölfen.
Nie mehr sollte ich in mein Leben als Mensch zurückkehren. Denn ich war geboren, um zu leben. In Freiheit.